Ein Erfahrungsbericht von Frank Doerr über seine Suche nach Wegen des Hörens und Singens
veröffentlicht im Connection Sonderheft Nr. 42 „Himmlische Klänge“
Erste Schritte
Wer kennt sie nicht, die Sage von Orpheus, der mit seinem Gesang sogar Steine zum Weinen bringen konnte, in den Hades hinabstieg, um seine geliebte Gattin zurückzuholen? Sogar die Götter der Unterwelt berührte er mit seiner Stimme und scheiterte doch kurz vor seinem Ziel. Auch ich las diese Sage in meiner Kindheit, doch für mich war sie ein Märchen. Mit „real existierender Musik“, nämlich dem von meinen Eltern verordneten Flöten- und Klavierunterricht, schien dies nichts zu tun zu haben.
Aspekte der Musik jenseits des verschulten Lernens lernte ich zum ersten Mal kennen, als ich mit Beginn der Pubertät und dem Ende des Unterrichts zaghaft zu improvisieren begann. Freiwillig und mit Spaß am Tun setzte ich mich hinter das Klavier, um die vielen in mir tobenden Gefühle auszudrücken. Auch im weiten Feld der Rockmusik konnte ich dies später mit Gefühlen wie Sehnsucht, Lust und Leidenschaft, Aggression und Wut, Trauer und Hilflosigkeit tun. Dazu erfuhr ich – aufgrund meiner regionalen Berühmtheit als Bassgitarrist -, wie Musik mir zu Anerkennung und Selbstbestätigung verhalf.
Andere Wirklichkeiten
Auch wenn mein Ohr durchs Musizieren geschult war, und ich gelernt hatte, das Gehörte zu analysieren und zu differenzieren, so verschaffte mir erst im Alter von 20 Jahren der Kontakt mit sogenannten Weichdrogen und Halluzinogenen den Einblick in eine andere Wirklichkeit des Hörens sowie unbekannte Dimensionen der Selbst- und Körperwahrnehmung. Gruppen, in deren Musik der Klang eine zentrale Rolle einnahm – wie die frühen Pink Floyd, King Crimson oder Brainticket – waren geliebte Begleiter auf diesen ersten Forschungsreisen in neue, innere Welten, und Nina Hagen mein „Guru“. Ich kannte nun eine Art Ziel und es entstand der Wunsch, dies ohne Krücken, als die ich Drogen irgendwann empfand, erreichen zu können.
Gleichzeitig wurden mir auch die Beschränkungen, die mir die Rockmusik auferlegte, immer stärker bewußt. Nicht nur, daß ich die Abhängigkeit von der Elektrik als einschränkend empfand und die damit einhergehenden Lautstärken mein Ohr angriffen. Ich erlebte auch die Persönlichkeit vieler herausragender Instrumentalisten und Sänger als wenig befreit oder gar als äußerst schwach. Mein Ideal war – wie ich es auch einige Jahre lang in der Kampfkunst erlebt hatte – das gleichzeitige Wachstum von Können und Persönlichkeit. Wo war dies zu finden?
Die Welt ist Klang
1990 begegneten mir die Toncassetten von Joachim Ernst Berendt: „Nada Brahma“ und „Vom Hören der Welt“. Beim stillen Hören spürte ich: Ja, das ist es, diesen Weg will ich gehen. In Phasen der Unsicherheit, Verwirrung oder Depression fand ich beim erneuten Anhören schnell wieder in meine Mitte zurück, fand Sicherheit und Stärke. Gleichzeitig belegte ich im Rahmen meines Studiums der Sozialpädagogik Seminare im Bereich freier Musikimprovisation und Musiktherapie, deren Bedeutung für mich so groß war, daß dies Gegenstand meiner Diplomarbeit wurde.
Neben der Selbsterfahrung als Individuum und Gruppenmitglied sowie meinem inneren Wachstum spielte auch hier wieder der Klang eine wichtige Rolle. Obwohl ein Teil schien er doch ein ganzes, war kaum greifbar und beherbergte gleichzeitig – neben dem Rhythmus – ein riesiges Potential. Meine Lieblingsband dieser Zeit war die für mich herausragendste Rockgruppe, die Deutschland je hervorgebracht hat: Can. Neben ihren innovativen Soundstrukturen faszinierte mich vor allem ihre improvisationsorientierte Arbeitsweise und die telepathisch anmutende Kommunikation innerhalb der Gruppe.
Vom Horchen zum Singen
Meine ersten gesanglichen Schritte in der Rockmusik waren von Ausagieren und Selbstdarstellung geprägt gewesen, während das nun stattfindende Singen in den Musikseminaren ein Tasten in neue Räume war. Dazu entdeckte ich den Obertongesang. Das Reich der Obertöne und ihre Brillanz faszinierten mich. Zudem schien es gut mit dem Singen von Mantren zu harmonieren, das ich damals neben tibetischen und keltischen Yogaübungen praktizierte. Dank Michael Vetters Obertonschule erreichte ich ein brauchbares Niveau. Aber das Obertonsingen fühlte sich in mir nicht gut an. Die Justierung des Kehlkopfbereichs lief der von mir angestrebten Freiheit entgegen. Zudem empfand ich diese Gesangsform als Begrenzung gegenüber dem, was mit der Stimme machbar ist. Also ließ ich es sein.
Auferlegte Begrenzungen
Ich war fast am Verzweifeln. Gab es denn keine Möglichkeit für mich, singen zu lernen? Der einzige Weg, den ich noch nicht beschritten hatte, war der einer klassischen Gesangsausbildung. Schon manches Mal hatte ich deren Vertreter wegen ihrer sauberen Intonation und stimmlichen Stärke beneidet. Aber entsprach dieser Weg meinem Sehnen, das der Musik- und Gestalttherapeut Fritz Hegi mit dem Satz, daß die Stimme unmittelbarster Ausdruck der Persönlichkeit sei, genau getroffen hatte? Zu oft hatte ich die Stimmen klassisch ausgebildeter SängerInnen als maskenhaft und nicht authentisch empfunden. Später erfuhr ich, daß ein hoher Prozentsatz der klassischen Gesangsschüler ihrer Stimme Begrenzungen auferlegt (beispielsweise in der Höhe) oder sie sich mit der Zeit ruiniert, indem Schädigungen des Stimmapparates wie Stimmbänderknötchen oder funktionale Störungen auftreten.
Also verdrängte ich den Gesang eine Weile. Aber bald nach meiner Einweihung in Reiki und der intensiven Arbeit damit tauchte in mir der brennende Wunsch (vielleicht gar die Bestimmung) auf, wirklich ein Sänger zu werden. Witzige Umwege führten mich schließlich zu Dana Buchenau, die aufgrund ihrer Ausbildung nach der Lichtenberger Methode einen neuen Weg verkörperte und genau die Lehrerin war, die ich suchte.
Die Vision eines himmlischen Klangs
Inspiriert durch den Amerikaner Cornelius Reid, der in jahrzehntelanger Forschung die Prinzipien des Belcanto wieder errichtete, suchte eine Arbeitsgruppe der TH Darmstadt, aus der u.a. das Lichtenberger Institut hervorging, nach neuen Wegen in der Gesangskunst. Im Zentrum der Lichtenbergschen Forschung stand zunächst der Kehlkopf: die Theorie seiner Doppelventilfunktion (Unter- und Überdruck) sowie der Einfluß von Körperhaltungen und -bewegungen und des mentalen Trainings auf seine Funktion. Neben den Forschungsergebnissen vieler Wissenschaftler wie beispielsweise des Franzosen Alfred A. Tomatis, der den Zusammenhang zwischen Gehör und Stimme herausgearbeitet und die Institute für Audio-Psycho-Phonologie initiiert hat, nahm die Beschäftigung mit vielen Körpertechniken wie Feldenkrais, Alexandertechnik, Yoga, Rolfing, Gindler, Shiatsu, isometrischem Muskeltraining, Boyesen Biodynamik, Physiotherapie, Ki-Techniken und Eutonie großen Raum ein.
Lichtenberg entwickelte sich so zu einer Schule der Wahrnehmung, die den Klang als oberstes Ordnungsprinzip der menschlichen Stimme in den Vordergrund stellte. Dabei lieferte das Prinzip der Selbstorganisation – basierend auf der Lehre der Synergetik nach Hermann Haken – wesentliche Impulse. Mit dem Klang als schöpferischem Prinzip ist Lichtenberg damit auch ein spiritueller Weg. Dieser Weg führt den Singenden zum Loslassen seiner einschränkenden Vorstellungen vom Endergebnis und zur Hingabe an eine höhere Ordnung. Ein Teil der Lichtenbergschen Arbeit ist somit – passend zur Rückbesinnung auf Orpheus – nicht mehr das eines optimierten menschlichen, sondern die Vision eines himmlischen Klangs geworden.
Nicht ich singe – es singt mich
Dies war mir anfangs noch gar nicht bewußt. Ich wußte, daß es erst einmal darum ging, mein schlummerndes Potential zu wecken. Das Lernen einer sauberen Intonation stand dabei nicht – wie in der herkömmlichen Ausbildung – im Vordergrund. Wichtiger waren das Vibrato und die beginnende Entwicklung der Sängerformanten, deren lebendige, energiereiche Brillanz für mich so ganz anders war als die kristalline Schönheit des Obertongesangs.
Ich begann mit Eintonübungen und dem Singen einfacher Vokalketten, oft in Verbindung mit Körperübungen, die auch feinstofflicher Natur waren wie z.B. Visualisierungübungen mit Hilfe des dritten Auges. Schon in der vierten Stunde stellte ich eine Zunahme meiner Körperintelligenz fest, d.h. der Bewußtwerdung dessen, was mein Körper im Augenblick brauchte. Erstmals nahm ich Körperregionen wie beispielsweise den Zungengrund wirklich bewußt war oder erlebte in einem wunderbaren Moment das Anspringen meiner Knochenleitung. Ein Reinigungsprozeß folgte dem nächsten, als sich nie geahnte Höhlen in meinem Kopf von dem über Jahre angesammelten Unrat befreiten.
Ich lernte das Diktat einer falschverstandenen Ästhetik loszulassen: meine Stimme durfte knarzen und quietschen, um neues zu lernen. Die Außerkraftsetzung der üblichen Bewertungsmaßstäbe, die Erfahrung von Fehlern als Begleiterscheinung des Wachstums und viele andere Erlebnisse führten dazu, daß die Entwicklung von Stimme und Persönlichkeit Hand in Hand ging. Und schließlich nahmen die Momente zu, in denen ich den Klang als selbständiges, von mir gelöstes Geschehen wahrnahm: ich war gleichzeitig Beobachter und doch berührt und erfüllt.
Befreie Deine Stimme!
Neben der Gesangsausbildung brachte mich vor allem meine Reiki-Praxis, eine Hörkur nach Tomatis und das einjährige, ganzheitliche Bewußtseinstraining bei der „Fülle“ (vergleichbar mit „Vision der Freude“) weiter voran. Gerade das Jahrestraining half mir – wenn auch durch heftige Prozesse – alte Ängst und Zwänge loszulassen, meine Verbundenheit mit einer höheren Ordnung zu erfahren und neue Anteile meiner Persönlichkeit buchstäblich hörbar zu machen.
Auch meine Lehrerin ging weiter auf ihrem Weg. Nach ihrer Ausbildung in Lichtenberg begab sie sich zu den Wurzeln der „Funktionalen Stimmbildung“ und wurde Meisterschülerin bei Cornelius Reid in New York. Im Unterschied zu Lichtenberg, das sich – neben der Forschung – vor allem der Ausbildung von Pädagogen und Fortbildung von Therapeuten widmet, steht Reid, der unter seinen zahlreichen Schülern auch Stars der Metropolitan Opera vorzuweisen hat, aktiv im musikalischen Geschehen. Die Entfaltung von Spiritualität und Persönlichkeit wird bei ihm nicht explizit formuliert, ist aber aufgrund der transformatorischen Kraft der Reid’schen Arbeit – die ausschließlich mit Stimuli gesanglicher Art arbeitet – ein natürlicher Teil des Lebens.
Ich folgte meiner Lehrerin auf diesem gesanglich ertragreichen Weg und arbeite nun an meinen ersten Arien – genau wie klassische Sänger. Ich spüre auf diesem Weg erstmals die Kräfte, die der überlieferten Literatur wie beispielsweise von Verdi oder Mozart innewohnen. Zudem geht es hier darum, ein großes Stück wirklich zu interpretieren, indem ich es in diesem Moment neu erschaffe, und mit dieser Schöpfung des Augenblicks kann ich auch dem von mir so geliebten Moment der Improvisation treu bleiben – mit all seiner Lebendigkeit und Spontaneität. Somit geht es nun nicht mehr um die Optimierung dessen, was da ist, sondern um die Schaffung von etwas neuem, da nur dies Authenizität und wirkliche Entwicklung bedeutet. Und vielleicht kann ich dann – so Gott will – einst meiner Vorstellung von Orpheus nahekommen: indem ich die Menschen und gar die Götter mit meinem Gesang erfreue, um schließlich durch den Tod hindurchzugehen und all die Verhaftungen an die dialektische Welt hinter mir zu lassen.
Kontakte
Lichtenberger Institut, Landgraf-Georg-Str. 2, 66405 Fischbachtal-Lichtenberg, Fon: 06166/8490, Fax: 8454
Rabine-Institut, Büdingen, Fon: 06042/952380, Fax: 952382
Peter Jacoby, Studio für Feldenkrais-Methode und Stimmbildung, Dreimannstr. 6, 32760 Detmold, Fon: 05231/89702, Fax: 870761
Dana Buchenau, Adelonstr. 18, 65929 Frankfurt, Fon & Fax: 069/306830
Literatur
GROSS, Sabine: Die funktionale Stimmpädagogik nach Gisela Rohmert in der logopädischen Stimmtherapie in: Forum Logopädie, Heft 3, Mai 1997
HEGI, Fritz: Improvistaion und Musiktherapie, Paderborn 1986
JACOBY, Peter: ganzheitliche Stimmbildung und Stimmtherapie – Die Feldenkrais-Methode als Wegweiser in: LOTZMANN, Geert (Hg.): Das Prinzip der Ganzheit in Diagnose, Therapie und Rehabilitation mündlicher Kommunikationsstörungen, Berlin 1995
ROHMERT, Gisela: Der Sänger auf dem Weg zum Klang, Köln, 1992
TOMATIS, Alfred A.: Der Klang des Lebens, Hamburg 1987
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